Zur Lage der Katholischen Kirche
Eine Einschätzung von Dechant Thomas Hoffmann
In einem Brief an die Gemeinden hat Dechant Thomas Hoffman seine Gedanken zur aktuellen Lage in der katholischen Kirche dargelegt.
Liebe Gemeinde,
ich möchte Sie teilhaben lassen an meinen Gedanken zur aktuellen Situation unserer katholischen Kirche. So können Sie einschätzen, wie Ihr Pfarrer die Lage beurteilt.
Die Aufarbeitung der vielen Missbrauchsfälle der vergangenen Jahrzehnte in der Kirche hat große Fehler und Fehleinschätzungen auf unserer Seite deutlich gemacht. Wir in der Kirche haben viel zu sehr an unser Ansehen in der Öffentlichkeit gedacht. Wir haben Amtsträger geschützt, die Kindern und Jugendlichen sexualisierte Gewalt angetan haben. Die Opfer haben keine Hilfe oder wenig Hilfe von uns erfahren. Das ist beschämend. Das ist unmenschlich. Das ist furchtbar. Es steht im deutlichen Widerspruch zum Evangelium. Jesus ging es vor allem um die Armen, die Kleinen und die Hilfsbedürftigen. Wir, als Institution Kirche, haben Jesus verraten, auch wenn die Täter eine kleine Minderheit waren und jeder von Ihnen, da bin ich mir sehr sicher, vorbildliche Priester kennt. Die Schuld der Institution Kirche ist vor allem darin zu sehen, dass wir die Täter geschützt und eine Kirche geschaffen haben, in der den Opfern nicht geglaubt wurde, falls sie sich in einem Klima der Schweigegebote und der Intransparenz überhaupt getraut haben, von ihren schrecklichen Erfahrungen zu berichten.
Die Täter hatten häufig ein Amt in der Kirche. Ihr Auftrag war es, für Menschen da zu sein und sie zu beschützen. Was sie getan haben, hat auch schon vor 50 Jahren gegen Strafgesetze verstoßen. Dafür kann es keine Ausreden und keine Entschuldigung geben.
Die Aufarbeitung dieser Vorfälle hat vor 12 Jahren begonnen. Sie ging viel zu langsam voran, weil einige Diözesen immer wieder versucht haben, die Wahrheit nur häppchenweise an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Es war ein großer Fehler, nicht schon frühzeitig externen Fachleuten die kirchlichen Archive und Personalakten zu überlassen, um so zu schnellen und qualitativ hochwertigen Ergebnissen zu kommen.
Wir als Kirche sind so tief gefallen, weil unser moralischer Anspruch sehr hoch ist. Wir hätten es deshalb besser wissen müssen. Dies hat zur Folge, dass wir in den nächsten Jahrzehnten in ethisch-moralischen Fragestellungen kein ernstzunehmender Partner in unserer Gesellschaft sein werden. Das ist tragisch, weil wir in vielen Bereichen etwas zu sagen haben, was unsere Gesellschaft bereichern könnte.
Mit folgenden Stichworten lässt sich das bisher Gesagte für mich zusammenfassen: Systemversagen, Leitungsversagen, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust, Unfähigkeit, die Welt wahrzunehmen und mit ihr angemessen zu kommunizieren.
Die längst überfälligen Rücktritte von Bischöfen, die hoffentlich bald kommen werden, sind nicht der Ausweg, sondern nur eine notwendige Konsequenz. Was auch nicht hilft sind Versprechungen und Beteuerungen von Amtsträgern. Es helfen nur Taten. Die Kirche muss sich radikal verändern und demokratischer und offener, weiblicher und menschlicher werden. Sie muss den Gedanken aufgeben, dass sich alles um sie dreht und sie das Maß aller Dinge ist. In Zukunft muss klar sein: Es geht um Jesus Christus, um seine Worte und seine Taten, sein Menschenbild und seine Wahrheit. Es darf nicht mehr um die Kirche gehen. Als Institution und Glaubensgemeinschaft wird sie weiterhin wichtig sein, allerdings als eine, die Jesus Christus verkündet und den Menschen dient.
Ich weiß, dass viele von Ihnen momentan an der Kirche (ver)zweifeln. Überall spüre ich Resignation und Mutlosigkeit. Von vielen Menschen habe ich gehört, dass sie sich als Katholiken im Betrieb, im Freundeskreis, der Verwandtschaft oder der Familie in einer Verteidigungshaltung befinden. Vielen treuen Katholiken gehen so langsam die guten Argumente für die Kirche aus. Ich hoffe sehr, dass wir endlich notwendige Reformen angehen und umsetzen können und ein positiver Geist zurückkehrt.
Ein Hoffnungszeichen in eine gute Richtung hat die wichtige ARD Dokumentation „Wie Gott uns schuf – Coming out in der katholischen Kirche“ bewirkt. Sie lief zur besten Sendezeit und stellte den Zuschauenden 125 Menschen vor, die an Gott glauben, mit Herzblut in unserer Kirche arbeiten und queer, also homosexuell oder transgender sind. Es waren bewegende und zum Teil erschütternde Glaubenszeugnisse. Queer die Kirche zu lieben und in ihr zu arbeiten bedeutete bisher, mit großer Vorsicht, mit Selbstverleugnung, mit Kündigungsängsten und manchmal auch mit Repressionen zu leben. Leid, Zweifel, manchmal Depressionen, fehlende Anerkennung, Verleugnung und vieles mehr waren die Folge. Ich wünsche mir einen offenen und menschlichen Umgang der Kirche mit ihren Mitarbeitenden, der die Verschiedenheit und Buntheit der Menschen als Bereicherung ansieht.
Die offizielle Kirchenpresse hat überraschend positiv auf die gezeigte Dokumentation reagiert. Auch die Reaktion der Kirchenleitung in unserem Bistum war ausgesprochen positiv. Generalvikar Martin Wilk spricht sich für ein Klima der Angstfreiheit in unserer Kirche aus, in der niemand aufgrund seiner sexuellen Identität diskriminiert werden dürfe. Ob sich aus der aktuellen Diskussion tatsächlich Veränderungen im Umgang mit queeren Menschen oder gar in der kirchlichen Lehre ergeben, wird die Zukunft zeigen.
Katholisch zu sein ist heute eine große Herausforderung. Als Ihr Pfarrer wünsche ich Ihnen trotz oder gerade wegen der angespannten Situation gute Erfahrungen in unserer Kirche und besonders in Ihrer Gemeinde. Bei uns geschieht auch noch viel Gutes. Dies zu entdecken und weiterzuentwickeln ist wichtiger denn je.
Thomas Hoffmann