Virtuelles Wasser - Einschätzungen aus dem Nordosten Brasiliens
Interview mit Maria Oberhofer, IRPAA, Brasilien
Seit Jahrzehnten unterstützt die Gemeinde St. Christophorus und das Dekanat das MISEREOR-Projekt „Trotz Dürre leben“. Der Titel ist Programm für die Organisation IRPAA, die vor Ort Projekte umsetzt, denn in dieser Region geht es darum, wie man in diesem trockenen Klima gut leben kann. Und dafür haben die Mitarbeiter:innen zusammen mit den Kleinbauer:innen schon viele angepasste Methoden entwickelt. Mit Maria Oberhofer, einer Mitarbeiterin, die auch schon Wolfsburg besucht hat, hat Birgit Dybowski ein Interview geführt.
Maria, welche Möglichkeiten gibt es, trotz des hohen Dürrerisikos in der Region zu leben und zu wirtschaften? Wie unterstützt die IRPAA die Bauern darin?
Um in dieser Region gut zu leben, trotz der klimatischen Bedingungen muss zuerst verstanden werden, dass die durch die Kolonisierung in die Region gebrachten Produktionsweisen nicht dem Trockenklima entsprechen, sondern im Gegenteil schädlich sind für die Natur und die Menschen. Aufklärungsarbeit mit den ländlichen Familien ist der wichtigste Ausgangspunkt, damit die Menschen verstehen, dass es nicht Gott gewollt ist, oder Klima bedingt ist, dass sie von der sozialen Gerechtigkeit ausgeschlossen sind. Bei den Schulungen, die von Irpaa angeboten werden, über die „Konviventia mit dem semiariden Klima“ = Im Einklang mit dem Trockengebiet leben, werden Themen vertieft, die helfen zu verstehen, dass es im Trockengebiet nicht an Wasser fehlt, sondern an Gerechtigkeit, wie dies vom Bischof Dom José Rodrigues sehr richtig erkannt wurde.
Die Zusammenhänge zu erkennen, dass die extreme Landkonzentration hauptverantwortlich für die Armut ist, und nicht die unregelmäßigen Niederschläge, ist wichtig. Die Menschen erkennen dadurch, dass nicht das Trockenklima bekämpft werden muss (was ja nicht möglich ist) sondern die Strukturen, die die soziale Ungerechtigkeit hervorrufen. Daraufhin ist es auch möglich Themen zu vertiefen, wie zum Beispiel über die Anfertigung von angepassten Regenwasserauffangbehältern, wie Zisternen, Wasserbecken, etc. angepasste Tierhaltung und Ackerbau, die Notwendigkeit einer Schulerziehung, die die Realität der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt, dass die Menschen in den ländlichen Dörfern das Recht auf Kommunikation haben. u.a.m.
In dieser Woche steht das Thema „virtuelles Wasser“ im Mittelpunkt der Aktion „Klimafasten“. Es geht um das Wasser, was zur Produktion verschiedener Produkte aufgewendet werden muss, bevor diese schließlich in unseren Regalen oder in unserer Industrie ankommen, z.B. zur Bewässerung von Obst oder im Bergbau. Problematisch ist das immer dann, wenn in den Ursprungsregionen der Produkte das Wasser knapp und nicht für alle gleich gut verfügbar ist.
Inwiefern ist auch eure Region, sind auch die Dörfer im Projektgebiet davon betroffen?
Im Projektgebiet sind die Dörfer direkt von diesem Problem betroffen. Beispielsweise hat in der Gegend um Juazeiro ein Unternehmer eine Zuckerrohrplantage mit einer Fläche von 25.000 Hektar, die bewässert werden muss. Und das in einer Trockenregion, in der vielen Menschen das Recht auf Wasser nicht gewährt wird! Und auf einer Fläche von 25.000 Hektar Land könnten über 300 Familien durch die Ziegen- und Schafhaltung, Bienenzucht, etc. leben, die natürliche Vegetation – Caatinga - wäre nicht abgeholzt worden, um der riesigen Fläche von Zuckerrohr-Monokultur Platz zu machen, auf der jetzt Agrargifte per Flugzeug versprüht werden, wo LohnarbeiterInnen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen und Familien aus ihren Dörfern vertrieben werden….. Dies sind die Konsequenzen des großflächigen Zuckerrohranbaus zur Ethanolherstellung, der allein dazu dient, in PKWs verbrannt zu werden. Dies gilt auch für die Obstplantagen, beispielsweise Mangos, Weintrauben, etc. die auf großen Flächen in Monokultur angebaut werden für Exportzwecke. Mit den Früchten, Soja, etc. wird auch Wasser, das so vielen Menschen fehlt, mit exportiert.
Inwiefern hat sich durch die politische Lage in Brasilien die Arbeit der IRPAA verändert?
Unter der derzeitigen Regierung hat sich die Situation für die Familien der traditionellen Landgemeinden noch mehr zugespitzt. Sozialprogramme wurden drastisch reduziert, bzw. aufgehoben. Wer dem Kapital und der Ausbeutung des Landes und natürlichen Gütern im Wege ist, muss weichen. Immer mehr sind die Landgemeinden vom Vorrücken der Großunternehmen, z.B. des Agrobusiness bedroht. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Obwohl die Familien großteils seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten in den Landgemeinden leben, Tiere halten, dort geboren sind, haben sie plötzlich keine Rechte mehr, und das Land wird Unternehmen zur Verfügung gestellt. Oft werden nationale und internationale Rechte, beispielsweise der ILO, Konvention 169 verletzt. Die registrierten Fälle von Landkonflikten weisen Rekordzahlen auf. Diese Konflikte beinhalten Räumungen von Landlosensiedlungen und Dörfern, Räumungsdrohungen, Invasionen, Morddrohungen, Gewalt und Schießerei. Die Zahl der ermordeten BauernführerInnen, hauptsächlich Indigene, steigen. Menschenleben sind wertlos. Durch die Pandemie hat sich die Situation noch verschärft. Denn die Unternehmen kommen in die Landgemeinden, ohne Rücksicht auf die notwendige soziale Isolierung, weil die Familien in den Dörfern oft keine geeignete krankenhausärtztliche Behandlung haben.
Bedingt durch die Streichung von staatlichen Maßnahmen zur Stärkung der Familienlandwirtschaft und der traditionellen Völker und Gemeinschaften, sowie durch steigende Lebensmittelpreise steigt die Zahl der hungernden Menschen erschreckend an. Brasilien kehrt wieder zur UN-Hungerkarte zurück, aus der es im Jahre 2014 kam. Laut Daten des Brasilianischen Institutes für Geografie und Statistik leiden 10,3 Millionen Menschen im Land Hunger. Und weiter, dass vier von zehn brasilianischen Familien in Ernährungsunsicherheit leben - ein Index, der sich seit 2004 verbessert hatte und sich jetzt wieder extrem verschlechtert.
Diese Realität erfordert mehr denn je die soziale Organisation der Familien der Dörfer, Rechtsberatung – und Beistand, sowie die Vernetzung von sozialen Organisationen.
Gibt es Ansätze in Bahia oder Brasilien, die für uns in Wolfsburg/Deutschland in Bezug auf diese Problematik Vorbild sein könnten?
Nach langen und intensiven Arbeiten und Forderungen der Familien der Landgemeinden und sozialen Organisationen wurde im Jahre 2003 das Programm für den Kauf von Produkten und Nahrungsmitteln direkt von den Familien der Familienlandwirtschaft und traditionellen Landgemeinden umgesetzt. PAA (Programa de aquisicao de alimentos) Außerdem das Programm der Nationalen Schulspeisung. PNAE (Programa Nacional de Alimentacao Escolar). Dieses Programmsieht vor, dass wenigstens 30 % der Lebensmittel zur Schulspeisung von der Familienlandwirtschaft bezogen werden müssen. Dadurch werden die regionalen Produkte berücksichtigt und die Wichtigkeit der Familienlandwirtschaft hervorgehoben. Auch Kinder und Jugendlichen sind stolz weil das, was auf dem elterlichen Hof produziert wird, zur Schulspeise angeboten wird. Leider wurden diese Programme unter der aktuellen Regierung gestrichen.
Gibt es noch etwas, was du uns sagen möchtest?
Es ist wichtig, dass jeder Mensch sein Konsumverhalten überdenkt. Denn all der Raubbau der Natur der Abbau von Aluminium und Kupfer, der seltenen Erden, der Anbau der Mangos und Weintrauben geschieht, weil Nachfrage und Bedarf besteht. Wir müssen hinterfragen, ob wir zu Weihnachten saftige Trauben oder Früchte am Tisch haben wollen, die nicht der Jahreszeit oder Region entsprechen, oder unbedingt das neueste Handy alle paar Monate brauchen. Unsere Nachfrage, unser Konsumverhalten ist der Grund, warum Menschen, wie hier in Brasilien und in anderen Ländern der Welt vertrieben werden, viele BauernführerInnen und Indigene ermordet werden. Das Verhalten eines jeden einzelnen Menschen hat Auswirkungen auf den Erhalt der Natur und den Planeten. Der Raubbau der natürlichen Ressourcen hat Grenzen und wirkt sich auf die Weltbevölkerung aus, unabhängig an welchem Ort der Welt er geschieht. Wir müssen die Eigeninteressen, den Wettbewerb von Großmächten auf den verschiedenen Ebenen, die Auswirkungen des Kapitalismus hinterfragen. „Euere Entwicklung ist unser Massaker! Sagen die VertreterInnen der indigenen Völker und traditionellen Landgemeinden. Es kann nicht Frieden herrschen, solange es keine soziale Gerechtigkeit für alle Völker und Bevölkerungsgruppen gibt. Wir alle haben die Verantwortung das „gemeinsame Haus der Schöpfung“ zu pflegen und zu bewahren. Die Pandemie des Coronavirus hat viele Fragen aufgeworfen, besonders über die Prioritäten die sich jeder Mensch setzt, um zur Bewahrung der Schöpfung beizutragen.
Vielen herzlichen Dank für das Interview und das Interesse für die Situation der Familien im Trockengebiet Brasiliens. Im Namen des gesamten Arbeitsteams von Irpaa und den Familien der Landgemeinden im Trockengebiet Brasiliens ein herzlicher Dank für Eure Unterstützung und Solidarität.
(Interview: Birgit Dybowski, März 2021)